Die MusikSacred Harp Gesang ist in vielerlei Hinsicht völlig anders als alles, was man in Deutschland an Chormusik oder Gemeinschaftsgesang kennt. Der wohl wichtigste Unterschied ist: Es wird nicht für Publikum gesungen! Bei Sacred Harp Gesang gibt es keinen Chor, keinen Chorleiter, keine Auftritte, kein Publikum, keine instrumentale Begleitung, nur Sängerinnen und Sänger, die sich treffen und zusammen Lieder aus einem Gesangbuch singen. Eigentlich ganz einfach. |
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Wenn man nicht für Publikum singt, dann ist es einigermaßen sinnlos, sich in einer Reihe aufzustellen und in eine Richtung zu singen: Da ist niemand! Darum sitzen Sacred Harp Gruppen in einem Quadrat und singen sich gegenseitig zu. Die 4 Seiten des Quadrats sind die 4 Stimmlagen: Bass, Tenor, Alt, Sopran.
Wenn man nicht für Publikum singt, sondern nur zur eigenen Freude, dann wird es mit der Zeit langweilig, wenn immer nur der Sopran die Melodie singt und die anderen Stimmen ihn mit Harmonien begleiten. Darum ist Sacred Harp polyphone Musik. Jede der 4 Stimmen hat ihre eigene Melodielinie, niemandem wird es langweilig. Wenn man nicht für Publikum singt, dann muss es nicht immer perfekt klingen. Niemand hat Eintritt bezahlt (Es darf natürlich gut klingen). Es wird so gesungen, dass es der Gruppe selbst Spaß macht und das bedeutet meist: Es wird laut gesungen! Wenn falsche Töne dabei sind: Keine Problem, beim nächsten Mal klappt es besser. |
Wenn man keinen Chorleiter hat, dann muss die Gruppe selbst entscheiden, was sie singt. Darum wünschen sich die Sängerinnen und Sänger nacheinander Lieder aus dem Gesangbuch "The Sacred Harp". Mit über 550 Liedern hat man genügend Auswahl...
Wenn man keinen Chorleiter hat, dann ist es nicht immer einfach einen gemeinsamen Rhythmus zu halten. Darum ist es bei größeren Gruppen üblich (wir machen das bisher nicht), dass der- oder diejenige, die sich ein Lied wünscht, in die Mitte des "hollow squares" tritt und Rhythmus und Geschwindigkeit des Lieds durch Armbewegungen vorgibt. Die Armbewegungen werden von der Gruppe aufgenommen und es ergibt sich ein gemeinsamer Puls. Anfänglich kommt einem das schräg vor. Nach einer Weile macht es aber ziemlich Spaß, gibt den Liedern einen starken "Drive" und ist eine Hilfe, z.B. um bei längeren Pausen wieder den Einsatz zu finden. |
Das Buch & etwas GeschichteThe Sacred Harp, das Buch aus dem wir singen, wurde 1844 von B.F. White und E.J. King veröffentlicht. Entgegen dem Titel, hat es nichts mit Harfenmusik zu tun: "Heilige Harfe" ist eine Metapher für die menschliche Stimme.
Das Buch ist das populärste aus einer ganzen Reihe ähnlicher Gesangbücher, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA erschienen sind: sogenannte Shape Note Gesangbücher. Diese Bücher wurden in "Singing Schools" verwendet, um v.a. der Landbevölkerung das Singen nach Noten beizubringen. Aus diesen "Singing Schools" hat sich diese Gesangstradition mit ihren faszinierenden Eigenarten entwickelt. |
Das Buch enthält Lieder amerikanischer Komponisten aber auch viele Melodien alter Volkslieder, die mit irischen, englischen und schottischen Einwanderern in die USA gekommen waren. Ein bekanntes Beispiel ist das schottische Volkslied "Auld Lang Syne" ("Nehmt Abschied Brüder ungewiss"), das in The Sacred Harp als "Plenary" vorkommt.
Die Musik der Shape Note Gesangbücher wurde später zurückgedrängt, da sie als "unakademisch" galt und nicht modernen europäischen Kompositionsregeln gehorchte. In ländlichen Kirchen der Südstaaten wurde jedoch weiterhin auf die "alte Weise" gesungen. In den letzten Jahren hat Sacred Harp Singen in den USA wieder starken Zulauf bekommen. Es gibt Gruppen in fast allen Bundesstaaten und vielen Großstädten. In Europa haben vor allem die Briten und Iren diese Musik für sich entdeckt. Auf dem Festland ist Sacred Harp fast noch völlig unbekannt. |
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Durtonleiter mit Shape Notes |
Fasola & Shape NotesWer sich einige der Videos auf dieser Seite angeschaut hat, wird festgestellt haben, dass die Lieder zu Beginn ohne Text, dafür aber mit einem "LA LA" Kauderwelsch gesungen werden.
Die Shape Note Gesangbücher werden so genannt, weil sie eine besondere Notation verwenden: Die Notenköpfe sind nicht immer rund, sondern haben unterschiedliche Formen ("Shapes"). In manchen Gesangbüchern gibt es 7 unterschiedliche Shapes, in The Sacred Harp sind es vier. Zu diesen Formen gehören Silben, mit denen sie benannt werden: Dreieck: "FA", Oval: "SO", Viereck: "LA", Raute: "MI" Bevor die Lieder mit ihrem Text gesungen werden, werden sie einmal als "Probe" mit den Namen der Shapes gesungen. |
OK, ganz lustig aber was soll das?
Diese Notation ist ein Hilfe, um unbekannte Lieder einfacher zu lernen oder auch direkt "vom Blatt" zu singen, ohne sie vorher zu kennen. Die Shapes sind fest den Stufen der Tonleiter zugeordnet, so ist z.B. die 1. Stufe der Durtonleiter immer ein "FA", die 3. immer ein "LA", die 5. immer ein "SO", egal in welcher Tonart man singt. Mit einiger Übung erkennt man anhand der Formen die Intervalle, die zu singen sind und hat über die zugehörigen Silben bereits den richtigen Klang dazu im Kopf. Das klingt theoretisch und kompliziert, ist es aber beim praktischen Singen nicht. Am Anfang kommt man mit den Silben durcheinander (macht nichts, einfach "LA, LA" weitersingen), später haben sich die Silben und die zugehörigen Tonstufen so eingeprägt, dass man "aus Reflex" richtig singt. Für geübte Sänger/-innen: Wer normale Noten vom Blatt singen kann, kann die Shapes ignorieren und sie als ganz normale runde Noten lesen. |
"And am I born to die? "Hark! from the tomb a doleful sound, |
Die TexteÄh, ja... die Texte in The Sacred Harp sind nichts für schwache Nerven.
Viele handeln in sehr direkter Weise vom Tod und davon die irdischen Lasten hinter sich zu lassen und im Jenseits ewigen Frieden zu finden. Zwei Strophen aus bekannten Liedern sind links aufgeführt. Das kann man auf den ersten Blick recht morbide finden. Auf den zweiten Blick entdeckt man die Schönheit dieser bildreichen und kraftvollen Texte. In ihnen drückt sich auch inhaltlich die Rauheit und Direktheit aus, die Sacred Harp musikalisch auszeichnet und z.B. von der späteren Gospelmusik unterscheidet. Die Texte sind durch die Bank christlich/religiös. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Sängerinnen und Sänger dies auch sind: Es gibt sowohl in den USA, als auch in Europa ein großes Spektrum an religiösen und areligiösen Überzeugungen unter den Sängerinnen und Sängern: Atheisten, evangelische Christen, Juden, Katholiken,... Für jeden scheint diese Musik einen eigenen Anknüpfungspunkt zu haben. Und zur Beruhigung: Es gibt natürlich auch Text die sehr "irdische" Themen behandeln, z.B. die Freude am Singen! |